Fotos: © Daniel Zupanc

INTERVIEW Wiener Zeitung, Printausgabe 6. Juni 2020

»Ein Tier muss ein Tier bleiben dürfen«

Christine Dobretsberger im Gespräch mit Dagmar Schratter

Die ehemalige Direktorin des Zoos in Schönbrunn über den Einfluss der Corona-Pandemie auf die Tierwelt - und die häufigsten Missverständnisse im Verhältnis zwischen Tier und Mensch.

"Wiener Zeitung": Frau Schratter, wie wirken sich Ihrer Einschätzung nach die mit der Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf die Tierwelt aus? Medienberichten zufolge wurden Tiere in unüblichen Gebieten gesichtet, etwa Delfine am Bosporus, Schakale im Stadtpark von Tel Aviv etc.

Dagmar Schratter: Ob die Berichte über Delfine und Schakale stimmen, kann ich nicht beurteilen, ich kenne sie auch nur aus den Medien. Bei Schakalen würde es mich nicht wundern, wenn es so wäre, ähnlich wie bei unseren Füchsen. Es ist bekannt, dass Tiere sich Gebiete, die vom Menschen verlassen oder gemieden werden, sehr schnell zurückerobern. Ein berühmtes Beispiel sind die verlassenen Gebiete rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl, die zum Zufluchtsgebiet für wilde Tiere wie Elche, Wölfe oder Luchse geworden sind.

Angeblich sangen während der Ausgangsbeschränkungen auch die Vögel lauter ...

Dass Vögel lauter gesungen hätten, kann ich mit Sicherheit dementieren. Man hat sie einfach nur besser gehört und so mancher hat die Vogelgesänge ohne begleitenden Verkehrslärm vielleicht überhaupt erstmals richtig wahrgenommen.

Wie reagierten die Tiere im Zoo auf die plötzliche Ruhe?

In vielen Tiergärten und Tierparks beobachtete man tagsüber ein Verhalten bei Tieren, das anders war als vor der Schließung. Die Tiere schienen die wenigen Menschen, die sie zu Gesicht bekamen, viel genauer zu beobachten. Tiere, die viel mit den Besuchern interagieren, wie beispielsweise Affen, reagierten nun besonders stark auf Mitarbeiter. Eine Mitarbeiterin vom Tiergarten Schönbrunn erzählte mir, dass auch das Wolfsweibchen Svenja sofort interessiert zum Zaun kam und sie entlang des Weges begleitete.

Als Biologin, Zoologin und langjährige Direktorin des Tiergarten Schönbrunn haben Sie sich Ihr ganzes Berufsleben lang mit den Bedürfnissen und dem Verhalten von Tieren befasst. Kann tierisches Verhalten für den Menschen Vorbild sein?

Das Verhalten des Tieres ist immer angepasst an das Habitat, an den Lebensraum. Otto Koenig sprach in diesem Zusammenhang von der Öko-Ethologie, um deutlich zu machen, dass das Verhalten eines Tieres nur im Kontext des ihn umgebenden Ökosystems verstanden werden kann. Allein was das Sozialverhalten betrifft, findet man im Tierreich die unterschiedlichsten Modelle: Es gibt monogame Arten wie die Gibbons, die zeitlebens als Pärchen zusammenbleiben. Dann gibt es Tierarten, bei denen ausschließlich die Männchen das Sagen haben und sich einen Harem halten. Gegenbeispiel hierfür sind die Kattas (eine Lemurenart, Anm.), hier gelten matriarchalische soziale Strukturen und die Weibchen sind tonangebend.

Mit anderen Worten: Im Tierreich existieren die unterschiedlichsten Lebensformen und Verhaltensweisen.

Im Tierreich gibt es alles, von Lug und Trug, Mord und Totschlag bis zur Empathiefähigkeit und Hilfsbereitschaft, deshalb wäre es viel zu verallgemeinernd, wenn man sagt, der Mensch sollte sich ein Vorbild an den Tieren nehmen. Was gleichzeitig nicht ausschließt, dass es das eine oder andere gibt, wo ich sagen würde, da können wir uns ein Vorbild nehmen. Und manchmal kann einfach das Beobachten von Tieren auch unsere Gemütsstimmung beeinflussen. Wenn ich gerade sehr unter Druck stand oder mir im Büro die Decke auf den Kopf fiel, konnte ein Kurzbesuch beim Großen Panda Wunder wirken! Zu beobachten, wie er in aller Ruhe dasitzt und Bambus frisst, ist Entspannung pur. Ich bin Frühaufsteherin, ging manchmal zeitig am Morgen eine Runde durch den Tiergarten, konnte beobachten, wie die Tiere munter werden, und hatte schon Kraft getankt für Dinge, die vielleicht nicht immer so angenehm sind. Ich glaube wirklich, ich hatte den schönsten Arbeitsplatz der Welt.

Sie waren in der über 250-jährigen Geschichte des Tiergarten Schönbrunn die erste Direktorin, haben insgesamt 26 Jahre im Zoo gearbeitet. Wie schwer ist Ihnen der Abschied gefallen?

Wie vieles im Leben hatte auch dieser Abschied zwei Seiten. Ich ging mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wobei das lachende schon etwas überwiegt. Ich freue mich wirklich, nicht mehr jeden Tag fremdbestimmt zu sein, von Termin zu Termin zu leben. Ein bisschen Wehmut ist klarerweise dabei, wenn man 26 Jahre sehr gerne in einem Betrieb gearbeitet hat. Aber trotzdem - die Freude überwiegt! Und jetzt finde ich endlich mehr Zeit für meine Hobbies Lesen und Wandern - zum Beispiel auf den Spuren der Geschichte meiner Heimat Kärnten. Und vielleicht wird mich dabei auch bald wieder ein Hund begleiten.

Weil Sie zuvor den legendären Verhaltensforscher Otto Koenig angesprochen haben: Mit ihm verband Sie von Anbeginn Ihrer beruflichen Laufbahn eine enge Zusammenarbeit. Wie kam es dazu?

Ich lernte Otto Koenig im Rahmen meines Biologiestudiums kennen, er betreute später auch meine Doktorarbeit. Er war ein Verhaltensforscher mit einem sehr breiten Interessenshorizont. Obwohl er zeit seines Lebens mit Tieren gearbeitet hat, hatte er gleichzeitig stets den Menschen im Blick. Im Gegensatz zum anthropozentrischen Weltbild sah er den Menschen als Teil der Natur an. Diese Denkweise hat mich maßgeblich beeinflusst. (interview-Auszug)



 

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