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INTERVIEW Wiener Zeitung, Printausgabe 8. Mai 2021

»Ich war immer schon ein Freigeist«

Christine Dobretsberger im Gespräch mit Chris Lohner


"Wiener Zeitung": Frau Lohner, was hat Sie bewogen, ein Buch über Ihre Kindheit zu schreiben?

Chris Lohner: Über dieses Thema wollte ich im Grunde immer schon schreiben, aber dann sind mir andere Bücher dazwischengekommen.

"Ich bin ein Kind der Stadt" ist gleichzeitig ein Kapitel Zeitgeschichte. Sie sind 1943 geboren, haben also die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges ebenso miterlebt wie die Besatzungszeit. Wie ist es Ihnen innerlich dabei ergangen, sich geistig noch einmal in diese Zeit zurückzuversetzen?

Das war spannend! Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen. Das Langzeitgedächtnis ist der Vorzug des Alters, das ich insofern unterstützt habe, indem ich ein Flip-Chart aufstellte und immer, wenn mir etwas einfiel, ein Stichwort notierte. Sobald man ein Stichwort hat, kann man sich auch die ganze Geschichte dahinter herholen.

Das Vorwort zu Ihrem Buch hat der kürzlich verstorbene Hugo Portisch verfasst, er schrieb: "Das ist eine Chris Lohner, die wir so bisher nicht gekannt haben. Eine, die uns heute mit aufwachsen lässt, mit Zuständen, die für die heutige junge Generation kaum vorstellbar sind: echter Hunger, echte Gefahren, ein Lebensgefühl, mit dem viele von uns erst durch dieses Buch konfrontiert werden und damit ein Stück Geschichte unseres Landes und seiner Menschen kennen- und verstehen lernen." Beim Lesen hatte ich dennoch den Eindruck, dass Sie ein glückliches Kind waren.

Ja absolut! Schließlich ist es ja allen so ergangen, es hat ja niemand etwas gehabt. Deshalb kam auch kein Neid auf so wie heute. Und wenn man ein bisschen etwas hatte, hat man es mit den Nachbarn oder mit anderen geteilt, die noch weniger besaßen als man selbst.

Hatten Sie dennoch als Kind irgendeinen ganz sehnlichen Wunsch?

Ich hatte eine Fetzenpuppe, einen Kochlöffel aus Holz, auf den meine Mutter ein Gesicht gemalt hatte. Ein kleines kariertes Stofffetzerl diente als Kopftuch. Mit dieser Puppe konnte ich stundenlang spielen, wünschte mir aber trotzdem ganz sehnlich eine echte Babypuppe, die ich dann auch irgendwann bekommen habe. Solche kleinen Wünsche gab es schon, aber unser größtes Glück war, dass mein Vater unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt ist. Er war zwar halb verhungert, aber er hatte überlebt.

Ihren Schilderungen zufolge vermitteln Sie den Eindruck, dass Sie ein großes Glück mit Ihren Eltern hatten und sehr geliebt und beschützt aufgewachsen sind.

Ja, man hat sich sehr um uns gekümmert, wir waren auch keine Schlüsselkinder, weil meine Mutter zu Hause war. Meine Eltern haben sich viel mit uns beschäftigt und da mein Vater gelernter Bibliothekar war, hatte ich, sobald ich lesen konnte, immer die passenden Bücher zur Hand. Meine Schwester und ich waren ausgesprochene Leseratten und selbst wenn es abends hieß: Licht aus!, haben wir unter der Bettdecke mit Taschenlampen weitergelesen, bis uns die Augen zugefallen sind. Ich kann mir mein Leben bis heute ohne Bücher gar nicht vorstellen.

Rückblickend betrachtet: Was haben Ihnen Ihre Eltern nachhaltig mitgegeben?

Mein Vater war ja ein unglaublicher Menschenfreund, seine Hilfsbereitschaft hat bis heute großen Einfluss auf mich und war sehr prägend. Ich habe von klein auf miterlebt, dass Leute mit Anliegen und Bitten zu ihm kamen, und wenn er etwas als wichtig und sinnvoll erachtete, hat er immer versucht, zu helfen oder seine Beziehungen und Kontakte anderen Menschen zugutekommen zu lassen.

Sie selbst sind als 11-Jährige in Altersheime gegangen und haben den Pensionisten zur Unterhaltung auf der Blockflöte vorgespielt. Machten Sie das aus eigenem Antrieb?

Ja, die armen Leute mussten sich das anhören! Ich habe alte Menschen immer schon sehr mögen, weil sie uns ja die Wege geebnet haben, die wir heute gehen. Man darf nicht vergessen, was die früheren Generationen für uns gemacht haben, man denke nur an viele Innovationen des Roten Wien, die heute ganz selbstverständlich genützt werden und bei denen sich kaum jemand Gedanken darüber macht, woher sie eigentlich kommen.

Woran denken Sie da zum Beispiel?

An die Gemeindebauten, als wir von unserer Bassenawohnung im fünften Bezirk in eine Gemeindewohnung am Bacherplatz übersiedelten, war das Luxus! Plötzlich gab es ein Bad mit Dusche und einer Toilette. Meine Schwester und ich hatten gemeinsam sogar ein eigenes Zimmer. Zu den Errungenschaften aus der Ersten Republik zählen sicherlich auch die Kinderfreibäder, die damals vor allem in Parkanlagen errichtet wurden. Fast alle dieser Kinderfreibäder wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, einige davon wurden Anfang der 1950er Jahre wieder aufgebaut. Anstatt am Gürtel einen Pool zu errichten, fände ich es sinnvoller, in Parkanlagen diese Idee der Freibäder zu revitalisieren.

Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?

Sie war die Lustige und die Künstlerische, hat Mandoline gespielt und Gedichte geschrieben.

Wie man Ihrem Buch entnehmen kann, gab es von ihr aber auch des Öfteren eine "gesunde Watsche".

Das war damals üblich, wir wurden nicht verprügelt, aber eine Watsche hat man von seinen Eltern schnell eingefangen, wenn man frech war. Was Kinder sich heute leisten, hätte ich mir nie erlauben dürfen. Wenn ich mich aufgeregt habe über einen Lehrer und mich ungerecht behandelt gefühlt habe, dann haben meine Eltern nicht gesagt, der Lehrer ist schuld, unser armes Kind, sondern sie sagten, na, da wirst du dich dementsprechend benommen haben. Deshalb fürchtete ich mich immer vor dem Elternsprechtag, weil dann immer ans Licht kam, was ich alles aufgeführt habe.

Sie waren also schon in ganz jungen Jahren eher ein "Freigeist". Wie gingen Ihre Eltern damit um?

Zunächst haben sie mich in den Kindergarten gesteckt, in der Hoffnung, dass ich dann ein bisschen Ruhe geben werde. Dort hat es mir allerdings überhaupt nicht gefallen. Am meisten auf die Nerven ging mir dieses kollektive Essen und Schlafen. Warum muss ich nach dem Mittagsessen schlafen? Ich wollte viel lieber zeichnen oder andere Dinge tun. Irgendwann habe ich dann ein Kind gebissen und meine Eltern haben mich aus dem Kindergarten rausgenommen. Letztlich hatte ich das Glück, dass meine Eltern meinen Freiheitsdrang nicht unterdrückten, aber natürlich habe ich dann für meine Experimente oft eine eingefangen. (Interview-Auszug)


 

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