© Tatjana Sternisa

INTERVIEW Wiener Zeitung, Printausgabe 6. November 2021

»Als Pantomime erzählst du deine eigene Geschichte«

Christine Dobretsberger im Gespräch mit Samy Molcho

Samy Molcho über den Wert von Territorien und den Unterschied zwischen Pantomime und Körpersprache.

"Wiener Zeitung": Herr Molcho, in Ihrem jüngsten Buch, "Territorium ist überall", befassen Sie sich nicht mit Ihrem Spezialthema Körpersprache, sondern, wie der Titel bereits verrät, mit dem Thema Territorium. Was hat Sie dazu bewogen?


Samy Molcho: Als Pantomime oder als Künstler steht immer die Beobachtung oder die Wahrnehmung von Situationen an erster Stelle. Als ich in den 1960er Jahren begann, auf Tournee zu gehen, war ich auf der ganzen Welt unterwegs. Im Zuge dieser Reisen überquerte ich viele territoriale Grenzen, was in den 60er Jahren nicht so einfach war wie heute. Bei jeder Überquerung einer Grenze war mir klar, dass ich nicht nur physische territoriale Gebiete bereise, sondern mich auch von einem kulturellen Territorium zum anderen bewege.

Wenn im alltäglichen Sprachgebrauch von Territorium die Rede ist, meinen wir üblicherweise politische Abgrenzungen und Territorien.

In meinem Lebensalltag habe ich so viele Situationen erlebt, in denen Menschen ein territoriales Verhalten zeigten. Dabei ging es oft gar nicht um physische Gebiete, sondern auch um sprachliche und geistige. Je nach kultureller Prägung ist das Verhalten der Menschen anders, die Beziehungen innerhalb der Familie, auch Sprache markiert ein ganz bestimmtes Territorium. Wie jemand spricht, an seiner Wortwahl, an seinem Dialekt erkennen wir sofort, aus welchem Landesteil oder welcher sozialen Schicht er stammt.

Sie beschreiben in Ihrem Buch viele Alltagssituationen, in denen Konflikte lauern, die territorialen Ursprungs sind. Zum Beispiel die Bäume in Nachbars Garten, die unseren Pflanzen die Sonne verdecken.

An diesem Beispiel sieht man, dass territoriale Grenzen oft fließend sind. Im Prinzip stehen die Bäume ja auf dem Grund und Boden des Nachbarn und gehen uns nichts an. Aber sie verdecken die Sonnenstrahlen, die ja eigentlich allen gehören und in diesem Fall uns vorenthalten werden. Damit wird das als Angriff auf unser Territorium empfunden. Es liegt in der Natur des Menschen, in einem ersten Impuls aggressiv auf diese Verletzung des eigenen Territoriums zu reagieren. Man will seinen Garten, sein Territorium verteidigen.

Sie gehen davon aus, dass allein das Wissen über den territorialen Ursprung eines Problems Konflikte verhindern könnte.

Wenn mir bewusst ist, weshalb ich mich ärgere, kann ich beginnen, nach einer Lösung zu suchen. In diesem speziellen Fall war es recht einfach. Ich sprach mit meinem Nachbarn und machte ihm das Angebot, einen Gärtner zu bezahlen, der die Bäume ein wenig zurückschneidet.

In diesem Buch werden viele Fragen aufgeworfen, die großteils unbeantwortet bleiben.

Ich bin nicht der Besserwissende, das ist nicht die Rolle eines Künstlers. Als Künstler haben wir empfindsame Antennen, wir zeigen Probleme auf oder weisen auf sie hin, aber wir lösen sie nicht. Dafür gibt es andere Instanzen. Aber ich denke, wenn man sich bestimmte Situationen oder Problemstellungen bewusst macht, findet man auch Alternativen. Jeder Mensch ist klug genug, seine Alternativen zu finden. Es gibt nicht eine Lösung für alles. Diesen Passepartout-Schlüssel, diese leichtere Lösung für alle Probleme gibt es nicht. Aber wenn ich weiß, was der Kern der Ursache meines Ärgers oder meiner Irritation ist, ist das ein erster Schritt.

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