© Karl Schöndorfer
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INTERVIEW Wiener Zeitung, Printausgabe 3. Jänner 2021
»Gäste sehen alles aus der Distanz«
Christine Dobretsberger im Gespräch mit Radek Knapp
Der Schriftsteller über die Gemeinsamkeiten von Österreichern und Polen, seine ersten Erlebnisse in Wien, seine Anfänge als Autor - und über seine Begegnung mit Stanislaw Lem.
"Wiener Zeitung": Ihr jüngstes Buch, "Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien. Notizen eines Möchtegern-Österreichers", ist ein ironischer Leitfaden, wie man sich als Ausländer in Österreich am besten bzw. schnellsten integriert. Was sind die drei wichtigsten Dinge, die man diesbezüglich beherzigen sollte?
Radek Knapp: Erstens bringen wir dem Ausländer das bewährte: "Schauma mal, dann werden wir sehen" bei. Dann: "Zweite Kassa, bitte!" Anschließend verabreichen wir einen Liter Veltliner, der ein erstklassiger Integrationsbeschleuniger ist.
Wann haben Sie im Supermarkt zum ersten Mal den Ruf nach einer zweiten Kassa "gewagt"?
Noch nie. Ist auch nicht nötig. Es kommt einem immer einer zuvor. Dieser Ruf ist übrigens eine rein österreichische Erfindung. Man kennt ihn sonst nirgendwo auf der Welt. Sogar in Deutschland, wo man mit Schlachtrufen aller Art Erfahrungen hat, ist er total unbekannt. Die Unesco sollte ihn zu einem "immateriellen Weltkulturerbe" erklären.
Im Zuge Ihrer Recherchen haben Sie auch die Feststellung gemacht, dass der "echte Wiener" vom Aussterben bedroht sei. Wieso?
Die Lage ist ernst. Alte Wirtshäuser weichen aquarienartigen Lokalen, wo man rohen Fisch serviert. Eine raumfordernde Spezies namens "Bobo" schränkt den natürlichen Lebensraum des Wieners ein. Wer den echten Wiener sehen will, muss am besten einen touristenfreien Heurigen aufsuchen. Dort kann man noch den Wiener über einem Glas Sturm brüten sehen und solche Weisheiten von sich geben wie: "Wir Wiener sind Leute, die niemandem in die Augen schauen und trotzdem alles sehen."
Kommen wir auf die Gemeinsamkeiten von Ihrem Geburtsland Polen und Österreich zu sprechen. Wenn man einen Blick in die Vergangenheit wirft, gibt es zwischen Österreich und Polen viele Bezugspunkte. Nicht zuletzt 1683, als der polnische König Johann III. Sobieski nach Wien kam, um die Stadt von der türkischen Belagerung zu befreien ...
Diese Gemeinsamkeit liegt schon eine Weile zurück, obwohl kürzlich ein betrunkener polnischer Bauarbeiter am Würstelstand den anwesenden Österreichern versicherte: "Wenn ihr wollt, wir vertreiben euch die Türken jetzt wie Sobieski." Die stärkste Gemeinsamkeit ist zweifellos die Vorliebe für Krankheiten und den Tod. Wenn sich jemand in Polen auf den Kopf greift, fragen ihn alle gleich, ob er einen Gehirntumor hat. Hier geht man weiter: Es gibt in Wien sogar ein Todes-Kaffeehaus, wo sich Leute regelmäßig treffen und über die letzten Dinge plaudern. Nach zwei Stunden sind alle quicklebendig und bester Laune. Der Tod als Mittel zur inneren Heiterkeit. Diese Stadt muss man einfach lieben.
Wie sieht es mit der Kulinarik aus? Sind Ihre hiesigen Lieblingsgerichte Blunzengröstl und Mohr im Hemd ein würdiger Ersatz für polnische Piroggen?
Die österreichische Küche ist fast wie die polnische. Sie hat sich bloß von der majestätischen Gravitation des Fleisches befreit. Nehmen wir das Wiener Schnitzel. Es ist derart weichgeklopft, dass man es in einer polnischen Kirche als Hostie verwenden könnte.
Inwiefern unterscheidet sich der polnische Humor vom österreichischen bzw. Wiener Humor?
Gar nicht viel. Beide Nationen haben ihren Humor im Schatten ihrer großen Nachbarnation entwickelt. Daher ist er feiner und liebt die Zwischenzeile. Neulich erzählte mir jemand den Witz: "Woher wissen wir, dass die Polen im Weltall sind? Weil der Große Wagen weg ist." Ich denke mir: Wollen wir den Terror, die Bomben und die allgemeine Verunsicherung nicht wieder gegen den polnischen Autodieb tauschen? Ich wäre dafür. Der polnische Autodieb wirkt heute wie ein romantisches Konzept.
Sie arbeiten als Schriftsteller mit dem Stilmittel der Ironie. Ist das in gewisser Weise auch eine Art Lebensphilosophie?
Je melancholischer man ist, desto mehr Humor entwickelt man. Das Gift-und-Gegengift-Prinzip. Außerdem mutet das Leben manchmal wie ein langer Tunnel an, an dessen Ende eine Antidepressiva-Tablette oder das große Lachen wartet. Ich habe mich fürs Lachen entschieden. Ironie ist ein gutes Instrument, Kritik zu üben, ohne Verletzungen zu verursachen. Schließlich liegen einem die Dinge, die man kritisiert, am Herzen. In Ihrem aktuellen Buch ist es Ihr Großvater, der Sie dazu ermutigt, nach Österreich zu reisen - in jenes Land "wo die Psychoanalyse erfunden wurde, um sich vom jahrhundertelangen Walzertanzen zu erholen".
Können Sie Walzer tanzen?
Nein, aber das lerne ich noch.
In Ihrem realen Leben ist die Entscheidung, nach Wien zu übersiedeln, aus ganz anderen Motiven gefallen. In einem Interview erwähnten Sie, dass Ihre Mutter unter dem Vorwand, für ein Wochenende zu verreisen, nach Wien gefahren und letztlich dort geblieben ist. Sie sind also bei Ihren Großeltern in Polen aufgewachsen?
Meine Eltern waren 23, als ich zur Welt kam. Also selber noch Kinder. So landete ich bei meinen Großeltern, was ein Riesenglück war. Es gab einen Garten, ein kleines Haus, Tiere. Das Glück endete, als meine Mutter mich für eine Woche nach Wien einlud und mich zwang, bei ihr zu bleiben. Ich war damals zwölf. Mein Tipp an alle Eltern: niemals ein Kind gewaltsam verpflanzen, ehe es nicht zumindest 16 ist. Sonst produziert ihr einen Chaoten - oder einen Schriftsteller.
Konnten Sie damals Deutsch?
Gar nicht - und Deutsch war mir noch dazu total unsympathisch. Die Kommunisten impften allen ein, dass es die Sprache des Feindes war. Warum unsere Freunde aus der DDR auch die Feindessprache verwendeten, konnte keiner erklären. "Wo ist der Sturmbannführer Stettke?" war der einzige deutsche Satz, den ich kannte, als ich nach Wien kam.
Wie haben Sie die Schulzeit als Ausländer erlebt?
Alle waren nett zu mir. Ich fiel das erste Jahr in Religion und Deutsch durch, aber man ließ mich trotzdem in die nächste Klasse aufsteigen. Unser Schuldirektor war eine Berühmtheit, er leitete im ORF die Sendung "Wer bastelt mit". Ich träumte meine ganz Schulzeit davon, ihm vor laufender Kamera den "Uhu"-Kleber reichen zu dürfen. Mein Traum hat sich nicht erfüllt. Aber dafür lernte ich, dass man in Österreich sehr wohl die Gabe hat, sich um einen Schwächeren zu kümmern.
Stimmt es, dass Sie mit 17 aus der Wohnung Ihrer Mutter geflogen sind, weil sie nicht einverstanden war mit Ihrem Berufswunsch Schriftsteller?
Weniger geflogen, als mich selbst für erwachsen erklärt. Ich verließ die traute, große Wohnung im vierten Schnöselbezirk und bezog eine Souterrainwohnung, wo ich den Schimmelpilz beim Wandern beobachten konnte. Ich war der glücklichste Mensch auf Erden. Ich spürte, dass ich endlich meine Pläne ausführen konnte - nämlich die Methode zu finden, wie man dieses schreckliche Leben schön finden kann. Aber ist das nicht der Anfang aller Kunst?
Hatte Literatur immer schon einen hohen Stellenwert in Ihrem Leben? Waren Ihre Großeltern Büchermenschen?
Ganz im Gegenteil. Mein Großvater hat vermutlich in seinem ganzen Leben kein Buch gelesen. Gerade deswegen hatten sie so viel Respekt vor Büchern und Bildung, den ich so manchem Intellektuellen wünschen würde. Sie haben mir die Liebe zur Literatur eingeimpft, indem sie mir ihre Sympathie für den Menschen vererbten.
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